Als mein Sohn etwa zwei Jahre alt war, fing er geradezu besessen damit an, Stöcke, Steine, Zapfen, Blätter und sonstiges Fundstücke von Spaziergängen mitzuschleppen. Egal, wohin unsere Wege uns führten, sei es durch den Park, über Spielplätze, entlang an den vielen Baustellen im Berliner Osten oder einfach nur zum Bäcker um die Ecke, er fand einen Schatz und nahm ihn mit sich.
In der Stadt sind das neben den für Elternansprüche noch einigermaßen nachvollziehbaren Fundstücken wie Stöcken oder schön geformten Steinen gerne auch mal Plastiklöffelchen, die einst zu Eisportionen gehörten, Kronkorken und Bierdeckel, Fetzen von Papier und Plastiktüten und natürlich Glasscherben. Um nur einige Dinge zu nennen, die der Sohn in diesem zarten Alter gerne und mit Begeisterung einsammelte.
Ich verstand ihn nicht. Oder ich verstand ihn nur zum Teil, denn ich begriff nur, dass es ihm ums Sammeln ging, darum, gleiche Teile zu finden, sie mit anderen ähnlichen Funden zu vergleichen und auch mit den anderen Schätzen neu zu gruppieren. Dass es noch um mehr ging, verstand ich erst später, als er besser sprechen konnte. Meine große Tochter hatte ähnliches Verhalten im selben Alter eher nicht gezeigt, jedenfalls konnte ich das nicht so eindeutig zuordnen, aber der Sohn begann mir zu erzählen, was es mit seinen Funden auf sich hatte. Er erzählte mir Geschichten zu den einzelnen Bestandteilen seines Schatzes und zog mich mit in sein kindliches Erleben hinein. Und plötzlich begann ich, mich zu erinnern…
An leere Marmeladengläser, die ich als Kind mit den rostigen Nägeln von den Baustellen rund um unser Haus füllte. An Stöcke, die wahlweise zur Flöte, zum Bogen, zum Schwert oder zum Zauberstab wurden. An Federn von Möwen und Tauben, die ich an eine lange Schnur band und mir als magischen Gürtel um die Taille wickelte – sehr zum Entsetzen meiner etwas pingeligen Großmutter. An die Scherben vom Flussufer, plattgewalzte Kupfermünzen und Katzengold – Teile meines Schatzes, als ich ein kleines Mädchen war.
Die Wahrheit ist nämlich, dass all diese Dinge, all dieser wertlose, keimige Kram, der in Elternaugen bestenfalls bedeutungslos und austauschbar ist und schlimmstenfalls Müll, für ein Kind a l l e s sein kann. In dem Moment, in dem ein Stück gefunden wird, nimmt das Kind einen Faden auf und geht in eine Geschichte hinein, die wir Eltern gar nicht wahrnehmen. Da ist eine glitzernde Scherbe im Sonnenlicht, vielleicht ist noch ein Tautropfen darauf – für uns ist das gefährlicher Abfall, an dem sich ein Kind verletzen kann, aber für das Kind ist es vielleicht ein magisches Amulett, das den Weg in ein paralleles Universum öffnen kann. Wie viele Waldspaziergänge habe ich schon mit meinem völlig in sich versunkenen Sohn gemacht, der sich nicht an den Gesprächen der Erwachsenen beteiligt, sondern vor sich hin stapft oder vorneweg läuft, auf gefällte Baumstämme klettert und mit einem Stock („Eine Angel, Mama!“) aus dem Gebüsch wieder auftaucht. Wie lange habe ich gebraucht, um zu verstehen, dass dieses Stück Holz für ihn in diesem Augenblick wirklich eine Angel ist und er ganz und gar in sein Spiel eingestiegen ist, so sehr, dass es für ihn ganz real ist – in diesem Moment.
In den Augen meiner Kinder kann ein Stock alles sein. Oder eine Scherbe. Oder ein Kronkorken. Es kommt nicht darauf an, was ich darin sehe, es kommt nur auf ihre Fantasie an. Auf ihre unendliche, bunte, wilde und schillernde kindliche Fantasie.