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Julia Wiener
3 min. Lesedauer
31. Januar 2018

Der Lesezwerg. Ein Nachtgespenst mit Nebenwirkungen

Es gibt mehr Wesen in unserem direkten Umfeld als wir üblicherweise wahrnehmen. Ich habe da so einige Erfahrungen mit Gestaltwandlern gemacht, die offenbar bei mir wohnen. Es sind drei Stück, in verschiedener Größen. Am häufigsten tarnen sie sich in der Gestalt von drei meistens freundlichen und lieben Kindern, aber oft sind sie auch ganz plötzlich Minions und zerlegen die Bude in ihre Einzelteile. Oder sie kollern als kleine Trolle durch den Garten. Manchmal taucht Cinderella melodramatisch auf und versucht, sich gegen ihre haushaltlichen Verpflichtungen zu wehren und stattdessen zum Ball zu gehen. Die Ninja-Turtles kloppen sich quer durch alle Etagen oder Merida begehrt gegen ihre Mutter auf – also gegen mich.

Die meisten der Gestalten kenne ich gut, weil sie immer wieder kommen. Auch scheinen die Gestaltwandler im Laufe ihres Wachstums verschiedene Typen zu durchlaufen. Sie starten als Gartentroll, machen eine Schleife über das Minionstadium und tauchen dann als Cinderella oder die Panzerknacker wieder auf. Aber eine Gestalt zeigt sich immer wieder, durch alle Alters- und Größenstufen hindurch: der Lesezwerg.

Der Lesezwerg tauchte erstmalig hier auf, als meine große Tochter etwa sechs bis sieben Jahre alt war. Sie ging schon zur Schule und konnte jeden Tag besser lesen, als der Lesezwerg mir zum ersten Mal begegnete. Ich hatte mein Kind schon ins Bett gebracht, gemeinsam hatten wir eine Geschichte gelesen, sie ein Stück und ich ein Stück, dann hatten wir das große Licht aus- und das Nachtlicht eingeschaltet und ich hatte ihr einen Gutenachtkuss gegeben. Wie jeden Abend. Ich war dann nach unten gegangen, habe mir ein Glas Wein eingegossen, Emails geschrieben, mit meinem Mann gesprochen und wähnte das Schulkind und das Baby im Tiefschlaf – alles wie üblich. Dann ging ich zur Toilette und machte einen Routinecheck im Kinderzimmer – und da war er: der Lesezwerg.

Er hockte im Bett meiner Tochter unter einer Kuscheldecke und hatte den Strahl seiner Taschenlampe auf ein Buch gerichtet. Denn das ist genau, was er tut: er liest des Nachts. Und er liest und liest und liest und liest. Er ist dabei kaum zu stoppen, es sei denn, man nimmt ihm die Taschenlampe und am besten alle Bücher weg. Dann verschwindet er. Aber so lange es eine Chance gibt, nächtens zu lesen, bei egal welcher noch so minimalen Lichtquelle – tut er es.

Ich war im ersten Moment leicht schockiert, wähnte ich doch mein schlafendes Kind im Bett und fand stattdessen diesen Lesezwerg vor. Zu nachtschlafender Zeit! Eigentlich war er ja ganz süß, wie er da so vertieft im Bett saß und mit der Taschenlampe im Anschlag vor sich hin schmökerte. Aber ich habe sie ihm dann doch weggenommen und ihn vertrieben, damit mein Kind noch einen Teil seines Nachtschlafes bekam.

Leider hat der Lesezwerg nämlich viele Eigenschaften eines Nachtgespenstes, da er vornehmlich im Dunkeln auftaucht und stets ohne Ankündigung in Erscheinung tritt. Ähnlich wie beim Nachtgespenst erschreckt der Lesezwerg vor allem die ahnungslosen Eltern, die beim Betreten des Kinderzimmers kaum wissen, wie ihnen geschieht. Die Folge davon ist dann natürlich anstatt des ausgeruhten Kindes am Morgen ein ausgewachsenes Morgenmufflon am Frühstückstisch, und mit dem ist nicht gut Kirschen essen. Nicht mal Nutellatoast hilft, um das Morgenmufflon zu vertreiben.

Ich habe den Lesezwerg jetzt bereits drei Kinder lang studiert und kein Mittel gefunden, wie ich ihn nachhaltig vertreiben oder fernhalten könnte. Stets tauchte er zuverlässig auf, sobald die Kinder ein gewisses Leseniveau erreicht hatten und ist seitdem fester Bestandteil des Gestaltwandlerrepertoires. Immerhin erschrecke ich mich nicht mehr vor ihm, ich kenne ihn ja jetzt schon ganz gut. Und irgendwie meine ich sogar, mich von n o c h viel früher an ihn zu erinnern… In meinem eigenen Kinderzimmer lebte auch ein Leserzwerg. Und ich hatte damals als Kind immer eine geladene Taschenlampe und einen Stapel spannender Bücher für ihn zur Hand…