Alle Menschen mit Kindern kennen das. Der Tag beginnt damit und er hört oft auch genauso auf: wir treiben unsere Kinder an. Wir müssen zur Schule, in den Kindergarten, zur Arbeit, wir müssen den Bus kriegen, die Parkuhr läuft ab, das Fußballtraining oder der Klavierunterricht beginnen. Sie sollen rechtzeitig zum Essen da sein, sie müssen zu Kindergeburtstagen erscheinen und sollen abends pünktlich ins Bett gehen – und es ist jedes Mal ein Kampf, den wir zu verlieren drohen.
Die innere Uhr von Kindern tickt anders und nicht selten habe ich schon erlebt, wie meine Kinder mit ihrem „Verständnis“ von Zeit ganze Tagesplanungen kippen oder die Regeln von Pünktlichkeit oder ähnlichen gesellschaftlich sanktionierten Tugenden außer Kraft setzen. Und je kleiner die Kinder, desto geringer das kinderseitige Verständnis für den Wunsch der Eltern, die Dinge mögen bitte s c h n e l l e r vonstatten gehen.
Ein Spaziergang mit einem Kleinkind kann da schon mal zur ausgewachsenen Pilgerung werden. Nicht etwa, weil der zurück gelegte Weg besonders lang wäre, nein, eher, weil das Maß an Geduld, das das beteiligte Elternteil aufbringen muss, sich rekordverdächtig nah an einer Seligsprechung bewegt. Außerdem dauert es in etwa so lang wie eine Wallfahrt nach Santiago de Compostela. Zu Fuß.
Wir haben das alle schon erlebt, aber mein ausführlichstes Erlebnis in Sachen Spaziergang mit Kleinkind, hat mir meine jüngste Tochter im Alter von etwa zweieinhalb Jahren beschert. Ich hatte sie mit zu einer physiotherapeutischen Praxis genommen, wo sie, während ich behandelt wurde, auf dem Boden neben der Behandlungsliege sehr lieb vor sich hin gespielt und gemalt hatte. Jetzt waren wir auf dem Weg von der Praxis zum nahegelegenen Supermarkt, bevor wir ins Auto steigen und zur Abholung der großen Geschwister einigermaßen pünktlich in die Schule fahren wollten. Also ich wollte das. Sie nicht.
Sie fand offenbar, nachdem sie sich jetzt 45 Minuten musterhaft selbst beschäftigt hatte, könnte sie das relativ kurze Stück Weg zum Supermarkt mal so gestalten, wie sie sich das vorstellte. Während wir losginggen, erzählte sie also schon mal ausführlich über alle Dinge, die wir sahen, Geschichten. Das waren bereits auf den ersten zehn Metern eine Schnecke, eine mit Efeu bewachsene Straßenlaterne, die aussah, wie ein Langhalsdino, einige Stöckchen, die sich prima als Angel, Zauberstab oder Pfeil benutzen lassen würden und eine geborstene Gehwegplatte, aus deren Bruchstellen sehr hübsche Gräser wuchsen. Also ausnehmend hübsche Gräser. So hübsch, das sie einzeln begutachtet werden und dem Straßenlaternendino gezeigt werden mussten, der übrigens seinerseits einen Namen erhielt. Robert. Robert, der Langhalsdino bekam also die Gräser gezeigt und ich übte mich in Geduld. Irgendwann gingen wir tatsächlich weiter und das Kind hielt mich an der Hand, verstrickte mich in quasi philosophische Gespräche über die Herkunft der Menschheit und beschloss dann, auf ein flaches Mäuerchen zu klettern, um darauf entlang zu balancieren.
So weit, so gut. Aber kleine Mäuerchen, die Beete einfassen, werden auch gerne mal von den Pflanzen überwuchert, die in eben diesen Beeten wachsen, und so kamen wir schnell an die erste Stelle, an der das Kind hätte absteigen und um einen wegversperrenden Auswuchs einer Hecke herum zu gehen, bevor es auf der Mauer hätte weiterlaufen können. Aber das ging nicht. Ich weiß nicht mehr, warum, aber das Kind hatte ellenlange Erklärungen, warum das nicht ginge und warum auch drüber heben nicht ok wäre, warum es also auf der Mauer zurück laufen, dann absteigen und dieselbe Strecke noch mal auf dem Gehweg würde gehen müssen. Es hatte irgend etwas mit einem Lied zu tun, aber ich weiß es nicht mehr. Wieder hatten wir 10 Meter zurück gelegt. Zwei Mal.
Schließlich konnten wir den Supermarkt sehen. Ich war in Gedanken schon bei meiner Einkaufsliste, da entdeckte das Kind eine Schnecke. Eine winzig kleine Schnecke, die mir nie aufgefallen wäre, die aber dem Kind sofort ins Auge gefallen war und die jetzt gerettet werden musste, denn sie saß mitten auf dem Gehweg. Das Kind machte sich also an die Schneckenrettung: Schnecke aufklauben, auf der ausgestreckten Handfläche ausführlich lange bewundern, die Fühler antippen, warten bis die Fühler wieder rauskommen, wieder die Fühler antippen… Dann einen geeigneten Ort finden, wo die Schnecke sicher sein würde. Zurück zur Hecke über dem Mäuerchen – die vorher geschafften 25 Meter waren wieder dahin. Ich verzweifelte schon.
Schließlich wurde die Schnecke verabschiedet, wir gingen weiter und betraten schon den Parkplatz vor dem Supermarkt. Ich wähnte mich bereits am Ziel meines Spazierganges, da kam ein kleiner wilder Wind auf, erfasste ein Häufchen Styroporkugeln, die irgendwo am Straßenrand lagen und ließ sie in einem kleinen Wirbel tanzen. Wunderschön sah das aus, wie diese kleine Ansammlung von bunten Kügelchen vom Wind getragen die Straße entlang tanzte – zurück in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Und das Kind jauchzte und lief hinterher, die ganze Straße zurück bis zum Eingang der Physiopraxis, wo wir vor gefühlt 3 Stunden los gegangen waren. Dort legte der Wind die Styroporkugeln wieder ab und das Kind winkte mir freundlich, rief mir noch etwas zu und vertiefte sich dann eine Unterhaltung mit Robert, dem Straßenlaternenlanghals.
Ich meinerseits setzte mich auf die Mauer das Parkplatzes vor dem Supermarkt und seufzte. Und ich schwor mir, das Kind beim nächsten Mal auf den Schultern zu tragen. Oder einfach mit dem Rad zum Einkaufen zu fahren – mit im Kindersitz angeschnalltem Kind.