Mein erstes Kind ist ein Mädchen. Sie war das erste Enkelkind in beiden Familien, alle waren aufgeregt und voller Freude, als das erste Kind dieser Generation in die Familie geboren wurde. Und mein Schwiegervater, der seinerseits ausschließlich Söhne hat und selbst ebenfalls keine Schwestern sondern einen Bruder, tat den erfreuten Ausspruch: „Endlich ein Mädchen!“
Ich fand das toll. Erstens bin ich selbst ein geliebtes Mädchen in einer Familie voller verschiedenster Kinder gewesen und finde/fand Mädchensein toll. Aber zweitens war ich natürlich vollkommen hin und weg von meinem Mädchen, diesem Kindchen, das ich da geboren hatte und das mir in seiner Kleinheit perfekt erschien. Genauso, wie es war. Als Mädchen.
Die Jahre gingen ins Land, ich kriegte einen Jungen und wieder ein Mädchen und meine drei Kinder kriegten diverse Cousins und Cousinen – die nächste Generation in der Familie wuchs. Und in dem Maß, in dem die Kinder älter wurden, umso mehr häuften sich die Jungs-Mädchen-Vorfälle, in denen plötzlich von diversen Tanten, Onkels und ja, auch ein Teil der Großeltern die blödesten Klischees in Puncto „Typisch Junge! Typisch Mädchen!“ lässig in die Runde warfen.
Die kleine Nichte fremdelte ausführlich und mochte auf einer Familienfeier partout dem Patenonkel nicht Hallo sagen: „Ein richtiges kleines Mädchen, so schüchtern und verschämt!“
Der Sohn bolzte auf einer Hochzeitsfeier mit den großen Cousins auf der Wiese, fiel hin und saute sich die helle Hose mit Grasflecken ein: „Ach, so’n richtiger Junge muss sich eben dreckig machen!“
Die große Tochter pubertierte stark und fühlte sich altersentsprechend schnell unverstanden und/oder angegriffen. Dann (über)reagierte sie oft und war eingeschnappt. „Typisch Mädchen! Eine richtige kleine Zicke!“
Undsoweiterundsofort. Die Liste ist eigentlich endlos und die Sprüche und Kommentare können beliebig ausgetauscht werden. Es ist fast egal, wer sie zu wem sagt, weil sie auf die ein oder andere Art genau widerspiegeln, mit welchen Vorurteilen und Klischees unsere Kinder (und wir als Elterngeneration) auch heute immer noch umgehen müssen.
Und dann, vor ziemlich kurzem, kam der Tiefschlag. Die pubertäre Tochter, in dem fatalen Alter, in dem sie sich beim Blick in den Spiegel entweder sofort selbst küssen möchte oder auf der Stelle eine Gesichts-OP verlangt, bekam zu Weihnachten ein in ihren Augen sehr erwachsenes Outfit: enge (Kunst-)Lederhose und bauchfreies Glitzertop für die Silvesterparty. Dazu muss man sagen, dass das Kind lang und schlaksig ist und insgesamt wohl eher zu dünn, als zu üppig, wenn man in dem Alter solche Kategorien überhaupt zur Anwendung bringen möchte. Sie probierte die Sachen also an und drehte sich ziemlich stolz aber auch noch unsicher ob des ungewohnten Anblicks vor dem Spiegel, als die Schwiegereltern dazu kamen, die gerade zu Besuch waren. Und dann kam der Kommentar, der mich aus der Haut fahren ließ:
„Na, das ist ja typisch Mädchen: sich den ganzen Tag im Spiegel bewundern. Also ich bin ja froh, dass ich keine Töchter hatte. Ich könnte damit nicht umgehen.“
Das Kind zuckte regelrecht zusammen, da sie ja tatsächlich weit entfernt von „Bewunderung“ für sich selbst war und außerdem tatsächlich gerade mal seit 2 Minuten auf ihr Spiegelbild blickte, an das sie sich ohnehin erst gewöhnen musste in den neuen Klamotten. Und da platzte mir der Kragen. Erstens stellte ich den Sachverhalt richtig: das Kind steht eben NICHT den ganzen Tag vor dem Spiegel. Und zweitens: falls es doch so wäre und er unbedingt zum Ausdruck bringen möchte, dass er das doof findet, muss diese Bewertung („Ich finde dein Verhalten blöd.“) nicht an ihre Geschlechtszugehörigkeit gekoppelt werden à la „blödes Verhalten ist typisch Mädchen“.
Um es kurz zu machen: er hat es nicht verstanden. Er fand, vor dem Spiegel stehen sei typisch Mädchen und wieso das jetzt schwierig sein soll, seine Bewertung dieses Verhaltens an das Geschlecht zu koppeln, war gleich ganz unklar. Er dürfe doch noch sagen, was er denke, war der Spruch. Und er sei nun mal wirklich froh, dass er nur Söhne gehabt hätte. Da wäre sowas ja gar nicht vorgekommen und da sei er froh drum. Bäm. Gleich zum zweiten Mal hatte er „Typisch Mädchen“ mit „blöd“ gekoppelt und es nicht mal gemerkt.
Er hat seine Enkelkinder lieb und ja, ich weiß, dass er die Mädchen und die Jungs gleich gern hat. Er hat auch dieses Kind lieb und hat natürlich auch zum Ausdruck gebracht, dass er sie nicht verletzen wollte und falls er das getan habe, täte es ihm von Herzen leid. Das entspricht auch mit Sicherheit der Wahrheit.
Aber das Klischee in seinem Kopf ist dennoch da. Und da geht es auch offenbar nicht mehr raus. Zum Glück ist das Kind ein versöhnliches und hat sich mit dem Opa gleich wieder liebgehabt, Quatsch gemacht und eine schöne Zeit verbracht. In meinem Herzen blieb allerdings ein bisschen Zorn über die großväterliche Engstirnigkeit zurück. Typisch Mädchen, typisch Junge – können wir nicht einfach die Menschen sehen? Ist das so schwer?