Ich bin gerade mal wieder Tante geworden und meine Kinder haben einen neuen kleinen Cousin. Die ganze Familie ist in heller Aufregung und alle würden am liebsten Tag und Nacht zusammen hocken und das neue Familienmitglied bewundern. Tatsächlich aber liegen über 600 Kilometer zwischen uns, denn das neue Baby wurde im Rheinland geboren und wir sind in Berlin. Mein Bruder lebt im Westerwald, meine Schwester im nördlichen Nordrhein-Westfalen, ein Teil der Familie in Leipzig und ein Teil in Hessen. Das eine Familie so über das Land verteilt ist wie unsere, ist heutzutage ja eher die Regel als die Ausnahme, und ich habe mir selten so dringend gewünscht, es sei anders, wie nach den Geburten meiner Kinder. Jetzt ist es wieder so, nur bin ich diesmal nicht die Mutter.
Seit wir in dieser großen Entfernung zur Herkunftsfamilie leben, war da immer die leise Sorge: Werden die Kinder sich mit ihren Großeltern, Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen überhaupt verbunden fühlen, wenn sie nicht regelmäßig Zeit mit ihnen verbringen? Was für eine Bindung ist das, wenn sie zwar die Großeltern jeden Sonntag via Skype sehen und mit ihnen sprechen können, aber nur zwei, drei Mal im Jahr für einige Tage mit ihnen kuscheln, auf ihrem Schoß sitzen und mit ihnen alltägliche und besondere Dinge teilen können?
Meine große Tochter ist das erste Enkelkind in der Familie gewesen und hat meine Eltern und Schwiegereltern erstmalig zu Großeltern gemacht. Aber wir waren in Berlin und die Großeltern – nicht. Die Sorge, die ich hatte, dass mein Kind fremdeln würde, dass es keine Bindung aufbauen könnte auf die Entfernung und dass wir nie würden verreisen und das Kind auch mal bei Oma und Opa lassen können, weil es diese gar nicht so gut kenne würde, war sehr präsent in den ersten Monaten ihres Lebens. Aber was ich erlebt habe, mit ihr und mit meinen anderen Kindern sowie auch mit meinen Neffen und Nichten, ist tatsächlich etwas völlig anderes.
Von Anfang an haben wir uns so oft gesehen wie möglich, aber bei berufstätigen Erwachsenen sind das nun mal nur wenige Gelegenheiten im Jahr: Weihnachten, ein paar Urlaubstage, Osterferien..? Nicht sehr viel Zeit, absolut gemessen. Aber im Babyjahr meiner Tochter reiste ich oft mit ihr. Zu zweit fuhren wir mit dem Zug ins Rheinland und verbrachten Tage mit den Großeltern und dem Rest der Verwandtschaft. Wir machten es zur Regel, dass wir einmal im Jahr Ferien mit den einen Großeltern und einmal mit den anderen Großeltern verbringen – mittlerweile eine Familientradition die auch meine Geschwister und ihre Familien mit einschließt. Das Entscheidendste war aber: Meine Kinder haben von Anfang an gespürt, wie wichtig diese Menschen für Mama und Papa sind. Dass diese Menschen ihnen in Liebe verbunden sind und echtes Interesse an ihnen haben. Dass wir Eltern diese Verbindung zu den Großeltern, Tanten und Onkeln leben und dass das alles Menschen sind, die in unseren Herzen einen großen Platz haben. Die wir vermissen, wenn sie nicht bei uns sind. Für die wir uns freuen, wenn etwas Schönes passiert und mit denen wir leiden, wenn sie traurig oder krank sind. Das haben die Kinder sehr früh aufgegriffen und dann auch gespiegelt.
Die Zugehörigkeit zu einer größeren Familie, das Gefühl, Teil einer Sippe zu sein, in der die einen für die anderen da sind und die anderen den einen immer ihre Arme öffnen, ist etwas, das sich trotz der räumlichen Entfernung für meine Kinder entwickelt hat. Sie wissen, dass das ihre Geheimwaffe ist, wenn es ums Bestehen in der „feindlichen“ Welt geht. Sie wissen, dass ihre Großeltern für sie da sind, dass ihre Tanten und Onkel sie lieb haben und dass alle diese Menschen in Liebe an sie gebunden sind.
Tatsächlich sind die Bindungen meiner Kinder an die jeweiligen Verwandten unterschiedlich stark, aber seit sie dem Kleinstkindalter entwachsen sind, gestalten sie diese Bindungen selbständig und füllen sie mit Leben. Sie wollen telefonieren, sie fragen nach dem nächsten gemeinsamen Urlaub, sie laden die inzwischen berenteten Großeltern zu Einschulung, Geburtstag und Konfirmation ein und artikulieren, dass sie sie dabei haben wollen. Dass sie wichtig sind.
Meine Kinder verstehen, dass diese Menschen ihr Ursprung sind. Dass sie zu ihnen gehören, weil sie sie überhaupt erst möglich gemacht haben. Dass dort, in der übers ganze Land verteilten Familie, ihre Wurzeln liegen und dass die Bindung an diese Familie, das Aufgehoben- und Geborgensein in dieser Liebe, ihnen Flügel verleiht, um ihre Welt zu erobern.
Abgesehen davon sind natürlich Großeltern die entspannteren Erwachsenen, wenn es darum geht, Dinge zu erlauben. Nach zwei Tagen Wellnesswochenende mit dem Mann, in denen die Großeltern hier die Stellung hielten, hatten wir Mühe, den Status Quo wieder herzustellen und sahen uns den absurdesten Forderungen ausgesetzt mit dem Argument: „Aber der Opa hat das erlaubt! Der hat gesagt, das macht Spaß und das hat er als Kind auch immer gemacht.“ Tja, der Apfel fällt wohl nicht weit vom Birnbaum.